von
Dr. med. Peter Schüler, Arzt für Neurologie, Erlangen
Am
25. und 26. Oktober 1996 tagten in Erlangen erstmalig alle Bayerischen
Alzheimer-Gesellschaften, um sich zu einem Landesverband
zusammenzuschließen. Aktuellste medizinische Informationen und eine
Fülle praktischer Tips wurden in Plenarsitzungen, Symposien,
Rundtischgesprächen und Workshops geboten.
50jähriger
Anlauf
Die ersten histopathologischen Veränderungen auf dem Weg zu
einer späteren Demenz finden sich schon 50 Jahre vor der klinischen
Manifestation des Leidens, berichtete Prof. Dr. Th. G. Ohm. Nach
Ansicht des Berliner Anatoms legt dies die Entwicklung von
Behandlungsstrategien nahe, die den Ausbruch der Krankheit weit ins
hohe Alter verschieben. Gelänge es, den Krankheitsverlauf um nur 10
Prozent (also 5 Jahre) nach hinten zu verschieben, bliebe den meisten
die Krankheit erspart.
Unwissen
und Scham rauben Chancen
Selbst Fachärzte stellen die Diagnose „Demenz“ meist erst
zwei Jahre nach Krankheitsbeginn, berichtete Priv.-Doz. Dr. A. Kurz.
Vier Gründe nannte der Münchener Wissenschaftler: 1. Die Demenz wird
noch immer vielfach als normaler Alterungsprozeß angesehen. 2. Die
Betroffenen schämen sich für ihre Beeinträchtigungen. 3. Die
meisten niedergelassenen Ärzte haben kein geeignetes
Untersuchungsinstrumentarium, um mit Sicherheit Frühformen von
Demenzen zu erkennen. 4. Viele Ärzte sehen in einer Frühdiagnostik
wenig Sinn, weil sie irrtümlich die Behandlungsmöglichkeiten als zu
gering einschätzen.
Zur Verbesserung der Situation gab Kurz ebenfalls vier
Anregungen:
1.
Aufklärung der Bevölkerung darüber, daß Demenzen echte
Krankheiten sind,
2.
Veränderung der Einstellung zu Demenz-Kranken, die es diesen
erleichtert, ihr Leiden zu zeigen,
3.
diagnostische Schulung insbesondere von Hausärzten,
4.
Aufklärung der niedergelassenen Ärzte über die
tatsächlichen (multimodalen) Behandlungsmöglichkeiten bei Demenzen.
Mehrdimensional
behandeln
Menschen mit leichten
kognitiven Beeinträchtigungen profitieren am meisten, wenn sie nicht
nur ihr Gedächtnis trainieren, sondern zusätzlich auch ihre
Alltagskompetenzen optimieren und psychomotorisch üben. Zu dieser
Folgerung führt eine Studie an ursprünglich 375 Personen, über die
Prof. Dr. W. D. Oswald berichtete. Im Vergleich zu einer
Kontrollgruppe nahm die Selbständigkeit der mehrdimensional
vorgehenden Personen schon nach 2 Jahren signifikant zu. Auch ihr
kognitives Leistungsvermögen besserte sich bis zum dritten Jahr, um
dann im vierten Jahr wieder auf den Wert der Kontrollgruppe zu sinken.
Der Erlanger Psychologe erklärte den Leistungsabfall mit dem weiteren
Voranschreiten der Grunderkrankung. Die deutlichen Erfolge des
mehrdimensionalen Behandlungsansatzes führte Oswald darauf zurück,
daß eine vermehrte Aktivierung von Gehirnzellen durch
Gedächtnistraining wenig nutzt, solange das Gewebe nicht gleichzeitig
auch durch körperliche Betätigung vermehrt mit Sauerstoff versorgt
wird. Auch bestimmte Nootropika steigern die Sauerstoff- und
Glukoseversorgung des Gehirns, so daß sich diese ebenfalls sehr gut
mit einem Gedächtnistraining kombinieren lassen.
Milieugestaltung
für Demenz-Kranke
Der Umgang mit
Demenz-Kranken stand im Mittelpunkt eines Symposiums unter Vorsitz von
H. Laade. Unter Regie der beiden Hamburger Demenz-Spezialisten Dr. J.
Woijnar und Dr. J. Bruder lieferte auch das Auditorium eine Fülle
nützlicher Anregungen, von denen im folgenden eine Auswahl
wiedergegeben ist.
Raum und Boden:
Optimal sind klar gegliederte und abwechslungsreich gestaltete
Aufenthaltsräume, die möglichst viel Bewegungsfreiheit bieten. Ein
kontrastfreier Bodenbelag erspart dem Demenz-Kranken Verwechslungen
mit einer künstlichen Schwelle, die seinen Bewegungsdrang unnötig
hemmen. Je nach Bedarf läßt sich dieses Phänomen jedoch auch
nutzen. So kann man durch einfache Kontraststreifen auf dem Boden
Bereiche abtrennen, die der Demenz-Kranke dann häufig meist nicht
mehr betritt. Eine andere Form von Barriere läßt sich errichten,
indem man Türen optisch so in die Wand integriert (z.B. durch
Anstrich mit der Wandfarbe), daß sie vom Patienten nicht mehr als
Tür erkannt werden.
Licht: Eine
helle und indirekte Beleuchtung verhindert, daß Demenz-Kranke
Schatten als bedrohliche Gegenstände ansehen. Männliche Patienten
werden nicht mehr verleitet, in abgelegene schattige Winkel zu
urinieren. Gelbes Licht hat gegenüber blauem den Vorteil, daß es die
Anwesenden freundlicher aussehen läßt und so Ängsten vorbeugt.
Musik: Ruhe
sollte optisch und klanglich herrschen. Da rhythmische Musik
Aggressionen eher fördert, ist klassische arrhythmische Musik zu
bevorzugen. Rhythmische Musik erleichtert es, den Kranken in Bewegung
zu bringen, mit ihm zu tanzen oder zu singen. Mit solchen Aktivitäten
beginnt man am besten selbst, statt zu fragen „Wollen Sie singen?“
Ja-Nein-Fragen werden nämlich zu rund 70 Prozent spontan mit
„Nein“ beantwortet.
Raumtemperatur:
Günstig sind 21 bis 22oC. Höhere Temperaturen fördern
Aggressionen.
Bewegung:
Indem man sich der Bewegungsrichtung des Kranken anschließt, also
diesen begleitet und nicht auf ihn zugeht, erspart man ihm Unruhe und
Angst. Am besten nähert man sich seitlich schrägt von rechts oder
begleitet den Kranken auf seiner rechten Seite. Visuelle und
sensorische Impulse von der rechten Körperhälfte werden nämlich
primär im linken Gehirn verarbeitet und dort emotional
vergleichsweise angenehmer erlebt als bei umgekehrtem Vorgehen.
Günstig ist eine Kontaktaufnahme über möglichst viele Sinneskanäle
(Sprache, Blick, Berührung). Wenn Demenz-Kranke gemeinsam auf langen
Fluren ständig hin und her wandern, müssen sie immer wieder
aufeinander zulaufen und sich damit Aufregungen aussetzen; deshalb
können Rundgänge entspannender sein.
Essen:
Aufgrund des beeinträchtigten Geschmacksvermögens „verweigern“
manche Demenz-Kranke die Einnahme von Mahlzeiten. Vieles schmeckt für
sie nur noch sauer oder bitter, da sie salzig und süß nicht mehr so
gut empfinden. Ein vermehrtes Angebot von Süßspeisen kann das
Dilemma lösen, da diese dem Kranken am ehesten noch angenehm
schmecken. Breizubereitungen mit Bananengeschmack werden nahezu immer
akzeptiert. Vermeiden sollte man Streusel oder Krümel auf der Speise
(etwa Schokostreusel oder Mandelsplitter auf dem Pudding). Manche
Demenz-Kranke erleben sie nämlich als nicht zur Speise gehörende
Fremdkörper, die sie wieder ausspucken. Außerdem lösen sie leicht
einen Würgereiz aus. Ähnliches gilt für Tabletten, weshalb
Demenz-Kranke Tropfen oder Brausezubereitungen eher akzeptieren.
Düfte: Auch
Demenz-Kranke empfinden angenehme Parfum-Düfte als wohlig. Es gibt
keinen Grund, sie ihnen vorzuenthalten.
Hilfsmittel:
Sturzhelme und Polsterungen für das Hüftgelenk verringern das
Frakturrisiko bei Stürzen. Warum sollte man Rollstühle nicht einmal
ähnlich wie Kinderwägen konstruieren, bei denen Schiebender und
Geschobener sich anblicken und emotional in Kontakt bleiben können.
Demenz-Kranke dürfte eine solche Sitzposition weniger ängstigen als
die für sie unberechenbare Fahrt mit Blickrichtung nach vorn (von
unsichtbaren Händen hineingeschoben in eine nicht beherrschbare
Welt).