Erlangen.
Der wissenschaftliche Anspruch an die Demenz-Behandlung hat der
dazugehörigen Diagnostik und Therapie zu einem hohen Niveau
verholfen, das dem Qualitätssicherungsgebot des Sozialgesetzbuches
Rechnung trägt. Nur wenige andere medizinische Bereiche setzen
psychometrische Verfahren in vergleichbarem Umfang routinemäßig und
auf breiter Ebene ein. Demenz-Spektrum (DS) nutzte die Gelegenheit,
zwei Experten zu wichtigen praktischen Gesichtspunkten der
Psychometrie bei Dementen zu befragen.
DS:
Herr Prof. Erzigkeit, was erschwert die
testpsychologische Untersuchung
Demenz-Kranker?
Prof.
Erzigkeit: Die Testsituation, die wir bei Untersuchungen von
Demenz-Patienten in der Klinik oder in der ärztlichen Praxis
vorfinden, unterscheidet sich grundlegend von Testungen gesunder
Personen. Schwierigkeiten bei der Testabnahme resultieren
beispielsweise daraus, daß Patienten nur bedingt belastbar sind.
Zudem ist das Verständnis für die Anforderungen der einzelnen
Testaufgaben häufig herabgesetzt. Zu diesen demenzspezifischen
Beeinträchtigungen können weitere Defizite hinzutreten, etwa Störungen
der Feinmotorik oder nachlassende Sehkraft. Faktoren wie diese müssen
bei der Testauswahl unbedingt berücksichtigt werden. Ab einem
bestimmten Störungsgrad sind Demenz-Patienten mit kognitiven
Leistungstests nicht mehr zu untersuchen. Hier ist der Einsatz von
Fremdbeurteilungsskalen zu empfehlen, die entweder über den Arzt oder
den Angehörigen krankheitsrelevante Merkmale der Demenz erfassen.
Erfreulicherweise wird seit einiger Zeit intensiv daran gearbeitet,
solche Verfahren zur Dokumentation von Demenz-Symptomen aus dem
nicht-kognitiven Bereich zu entwickeln.
PS:
Wo sehen Sie noch Nachholbedarf?
Prof.
Erzigkeit: Grundsätzlich sollte bei Demenz-Kranken nicht nur ein
negatives, sondern auch ein positives Leistungsbild erhoben werden, um
noch erhaltene Leistungen zu erfassen, die z.B. für
Kompensationsstrategien genutzt werden können. Ebenso wichtig ist es,
Instrumente zu entwickeln, die eine Früherkennung der Demenz auf ökonomische
Weise erlauben. Dies ist deshalb so wichtig, weil man davon ausgehen
kann, daß eine Früherkennung und der rechtzeitige Beginn der
Behandlung den besten Therapieerfolg versprechen.
DS:
Herr Lehfeld, wo sehen Sie weitere Grenzen der Psychometrie bei
Dementen?
Dr.
Lehfeld: Bei der Beurteilung des Erfolges therapeutischer Maßnahmen
wird zunehmend Gewicht auf den Nachweis der „klinischen Relevanz“
der Behandlung gelegt. Damit sind Auswirkungen der Therapie gemeint,
die sich auch im Alltag des Patienten in seinem Verhalten und Erleben
zeigen. Skalen, die eine Erhaltung oder Verbesserung von
Alltagskompetenzen oder einen Zugewinn an Lebensqualität abbilden können,
scheinen hierfür prinzipiell besser geeignet zu sein als
psychometrische Leistungstests. Für den Bereich der Alltagsaktivitäten
(ADL) gelingt die Erfassung demenzbedingter Störungen und deren Veränderungen
im Therapieverlauf mittlerweile schon in zufriedenstellender Weise,
etwa über die Auskünfte von Angehörigen. Schwieriger gestaltet sich
die Messung der Lebensqualität, die in der Regel eine
Selbstbeurteilung voraussetzt. Da die Fähigkeit zur Reflexion mit
fortschreitender Demenz jedoch abnimmt und Fremdurteile die
Selbstauskunft nicht ersetzen können, sind Lebensqualitätsskalen
hinsichtlich ihrer Eignung für die Beurteilung des Therapieerfolges
gegenwärtig noch in der Diskussion.
DS:
Es gibt auch Kritik an den bewährten Demenz-Tests. Was ist davon
zu halten?
Dr.
Lehfeld: Jedes psychometrische Verfahren hat seine Grenzen. So
kann man beispielsweise an dem weltweit angewandten Mini Mental State
Examination (MMSE) kritisieren, daß dieser Test stark bildungs- und
kulturabhängig ist. Auch für längsschnittliche Untersuchungen ist
er nicht geeignet, ebensowenig für die Erfassung diskreter kognitiver
Störungen. Häufig lassen sich Nachteile einzelner Verfahren durch
die Kombination mehrerer Tests ausgleichen. Im Rahmen unserer Gedächtnissprechstunde
setzen wir beispielsweise eine Testbatterie ein, die aus dem SKT (=
Syndrom-Kurz-Test), einer ADL-Skala, die in Erlangen in Kooperation
mit internationalen Forschungszentren entwickelt wurde, und einer
klinischen Globalbeurteilung besteht. Damit erfüllen wir die
Forderung nach Berücksichtigung unterschiedlicher Meßebenen in der
Demenz-Diagnostik. Zunehmender Kritik sieht sich in letzter Zeit vor
allem der Hachinski-Ischämie-Score (HIS) ausgesetzt. So konnten
Swanwick und Mitarbeiter (1996) zeigen, daß der HIS zwar sensitiv
eine Alzheimer-Demenz zu erkennen vermag, für die Erkennung einer
ischämischen vaskulären Demenz aber zu wenig sensitiv ist.
DS:
Was ist von sogenannten Kurztests zur Erfassung der Demenz zu halten?
Sind Sie ein Kompromiß, bei dem zugunsten einer schnellen Durchführung
auf mögliche Vorteile ausführlicherer Tests verzichtet wird?
Erzigkeit:
Keineswegs. Wie eigene frühere Arbeiten und jetzt auch eine
Untersuchung von Stuss und Mitarbeitern (1996) zeigen, sind die
Kurztests häufig genau so gut, ja in Einzelfällen - selbstverständlich
in Abhängigkeit von der Fragestellung - besser als längere Tests.
Die erwähnte Studie verglich insgesamt fünf psychometrische
Verfahren.
DS:
Was leistet der von Ihnen entwickelte SKT?
Erzigkeit:
Der SKT mißt den Schweregrad von Gedächtnis- und Aufmerksamkeitsstörungen
im Rahmen von Hirnleistungsstörungen unterschiedlicher Genese. Er ermöglicht
die Kontrolle des Krankheitsverlaufs und die Evaluation
therapeutischer Maßnahmen. Der SKT hat sich auch bei der Erfassung
leichter kognitiver Störungen bewährt.
Er eignet sich sehr gut für den
Einsatz in der Praxis des niedergelassenen Arztes, da seine Anwendung
leicht zu erlernen ist und die Durchführung wenig Zeit benötigt
(Ersttestung: ca. 15 Minuten; Wiederholung: 10 Minuten). In der Regel
kann das ärztliche Hilfspersonal den SKT abnehmen. Im kassenärztlichen
Bereich wird die Durchführung mit der EBM-Ziffer 892 (300 Punkte)
abgerechnet, wobei es jedoch regionale Unterschiede gibt. Der SKT umfaßt
neun Subtests, deren maximale Bearbeitungszeit jeweils 60 Sekunden
beträgt. Er ist für vier Altersgruppen normiert. Reliabilität und
Validität des Verfahrens wurden in internationalen Studien
abgesichert. Zur Zeit wird der SKT in einer Anwendungsbeobachtung mit
Sermion® 30 bei Demenz-Kranken in der niedergelassenen Praxis
eingesetzt.
DS:
Herr Prof. Erzigkeit, Dr. Lehfeld, vielen Dank für Ihre
Informationen.
Literaturempfehlungen:
W.
Braun/R. Schaltenbrand (Hrsg.): Qualitätssicherung in Diagnostik und
Therapie am Beispiel der Demenzerkrankungen. Berichtsband zum
Methodenforum im November 1995. Universität Witten/Herdecke
Verlagsgesellschaft mbH, Witten 1996. 199 Seiten. 72 DM.
Bestelladresse: IFE GmbH, Alfred-Herrhausen-Str. 54, 58455 Witten
In den 18
Beiträgen des Sammelbandes beleuchten niedergelassene und klinisch tätige
Demenz-Experten, Pflegekräfte und „Qualitätsmanager“ das Thema
aus der Sicht ihres Faches.
H.
Erzigkeit: SKT Kurzmanual, Geromed Witten 1992
H.
Lehfeld: Ist mit dem Einsatz von Lebensqualitäts-Skalen in klinischen
Studien im Bereich dementieller Erkrankungen ein Informationsgewinn
verbunden? Zeitschrift für Gerontopsychologie u. -psychiatrie 1996
(9) 235-242
D. T.
Stuss et al.: Do long tests yield a more accurate diagnosis of
dementia than short tests? Arch. Neurol. 1996 (53) 1033-1039
G. R.
Swanwick et al.: Utility of ischemic scores in the differential
diagnosis of Alzheimer´s disease and ischemic vascular dementia. Int.
Psychogeriatrics 1996 (8) 413-424