Australien.
Demenz ist vor allem ein Thema der westlichen Medizin, obwohl es alte
Menschen mit vergleichbaren Symptomen weltweit gibt. Traditionelle
Kulturen und östliche Länder gehen jedoch mir ihren alten verwirrten
Menschen mitunter anders um und brauchen sie nicht mit einem
speziellen Etikett („Demenz“) zu versehen. Im Westen schafft
dagegen die Unterscheidung zwischen „normalem Altern“ und
„Demenz“ die Grundlage, um Gelder für entsprechende
Forschungsvorhaben oder auch für die Unterstützung der Betroffenen
bereitzustellen. Diese
und andere interessante Denkanstöße gibt K. Pollitt in einem
anthropologisch ausgerichteten Beitrag.
Relativ wenig Aufmerksamkeit wurde bislang der Frage gewidmet,
inwieweit soziale Faktoren zum Problem „Demenz“ beitragen. Ob eine
Person „hilflos“, „infantil“, „störend“ und letztlich „dement“
ist, hängt nämlich nicht nur von dieser selbst ab. Mindestens genau
so wichtig ist der entsprechende Beitrag der Gesellschaft. Wenn sie
einem alten Menschen nicht genügend Hilfen zur Verfügung stellt,
diesen wie ein Kind behandelt und sich durch ihn in den
gesellschaftlichen Abläufen „gestört“ fühlt, wirkt sie an der
Stigmatisierung auffälliger („dementer“) Menschen mit.
Beispiele aus dem interkulturellen Vergleich verdeutlichen, wie
sehr gesellschaftliche Einflüsse auch die Untersuchung des Phänomens
„Demenz“ erschweren können. Bekanntlich ist man ja gerade beim
Studium der Demenz besonders auf Angaben von Dritten angewiesen, um
ein Verhalten als „dement“ zu klassifizieren. Nun gibt es aber
Kulturen, in denen man ungern von privaten Dingen spricht, Frauen
üblicherweise den Männern das Reden überlassen oder es wichtig ist,
dem Fragenden einen Gefallen zu erweisen. Sind die auf solche Weise
gewonnenen Daten dennoch verwertbar? Epidemiologische Studien auf
Krankenhausdaten zu stützen, ist ebenfalls sehr fraglich, da auch die
Inanspruchnahme von Krankenhäusern kulturabhängig ist (Scham,
Aberglaube usw.). „Objektive“ Überprüfungen durch Autopsien sind
mitunter aus religiösen Gründen nicht möglich.
Demenz
ist, was der Demenz-Test mißt
Inwieweit sie
Demenzen zuverlässig erfassen, müssen sich auch gängige Tests wie
der Mini Mental State (MMS) fragen lassen. Entwickelt sich etwa jeder
vierte Einwohner von Santa Cruz bereits deswegen in Richtung einer
Demenz, weil er den Namen des brasilianischen Präsidenten nicht kennt
(= Frage aus dem MMS)? Wie soll man die Schwierigkeiten beurteilen,
die Menschen ohne Schulbildung haben, wenn sie die Zeichen und
Rechenaufgaben des MMS absolvieren sollen? Was ist davon zu halten,
wenn die Einwohner von Slum-Vierteln in Thailand es als unwichtig
ansehen, das Tagesdatum zu kennen?
Auch Manuale wie DSM-IV und ICD-10 stoßen schnell an
kulturelle Grenzen, wenn sie für die Diagnose einer Demenz verlangen,
daß die Symptome die Ausübung der täglichen Aktivitäten nachhaltig
beeinträchtigen. Dementsprechend wird man bei deutschen Senioren
vielleicht schon bald eine Demenz vermuten, wenn sie nicht mehr in der
Lage sind, ihren Haushalt zu führen sowie ihre Bankgeschäfte und
Einkäufe selbst zu erledigen. Dagegen käme man in Indien vermutlich
schon deswegen nicht auf eine solche Idee, weil man in indischen
Großfamilien solche Dinge von älteren Menschen generell meist nicht
mehr verlangt.
Wie kulturelle Sichtweisen den Umgang mit „Demenz“ auch
positiv beeinflussen können, zeigen ozeanische Gesellschaften. Dort
herrscht die Vorstellung, daß alte Menschen deswegen über ihre
geistigen Kräfte nicht mehr voll verfügen, weil sie diese an die
jüngere Generation weitergegeben haben. Eine solche
„Großzügigkeit“ ermuntert vermutlich zu einem ganz anderen
Umgang mit „Dementen“ als die Vorstellungen westlicher
Gesellschaften von einem „geistigen Verfall“.
Nach
K. A. Pollitt: Dementia in old age: an anthropological perspective.
Psychological Medicine 1996 (26) 1061-1074