von
Dipl.-Psych. Dr. Dr. med. Rolf D. Hirsch, Leiter der Abteilung für
Gerontopsychiatrie, Rheinische Landesklinik Bonn
38 Prozent der Betreuer
werden gegenüber Demenz-Kranken verbal und fast 11 Prozent sogar körperlich
aggressiv. Die Wahrscheinlichkeit solcher Grenzüberschreitungen erhöht
sich, wenn Betreuer und Betreuter im gleichen Haushalt leben, der
Demenz-Kranke ein Mann ist und der Patient kognitiv bzw. in seinen
Alltagskompetenzen deutlich beeinträchtigt ist. Die Gefahr körperlicher
Attacken nimmt zu, wenn es sich beim Patienten um einen Ehepartner
handelt und der Betreuer selbst unter seelischen Beschwerden leidet.
Zu diesen Schlußfolgerungen gelangt eine niederländische Studie von
A. M. Pot und Mitarbeitern an 169 älteren Demenz-Patienten und ihren
Betreuern. Keiner der Kranken lebte in einem Heim. Ihr
Durchschnittsalter betrug 78 Jahre.
Diese relativ neue
Untersuchung (1996) zeigt, daß das Thema „Gewalt gegen alte
Menschen“ ein internationales Problem ist. Selbst vor einer
besonders schutzbedürftigen Gruppe macht es nicht halt: den
Demenz-Kranken. Aus anderen Studien wissen wir, daß es auch
professionellen Helfern schwer fällt, mit Gewalt zurückhaltend
umzugehen. So ermittelte eine Längsschnittuntersuchung in einem
psychiatrischen Landeskrankenhaus, daß 21 Prozent aller Patienten im
Verlauf von zwei Monaten mindestens einmal fixiert wurden. Von den
insgesamt 385 Fixierungen waren in 61 Prozent Demenz-Kranke betroffen
(Hirsch u.a. 1992).
„Burn-out“
vermeiden
Welche Empfehlungen lassen
sich angesichts einer solchen Situation aussprechen? Die eingangs
zitierten niederländischen Wissenschaftler kommen zu dem Ergebnis, daß
körperliche Gewalt nicht vom Ausmaß des pflegerischen Aufwandes abhängt,
sondern eher von Erschöpfungszuständen („Burn-out“) auf seiten
der Betreuer. Körperliche Gewalt sei demnach nicht eine bloße
Steigerung verbaler Gewalt; sie unterliege vermutlich eigenen Gesetzmäßigkeiten.
Dementsprechend kann es sinnvoll sein, unterschiedliche
Interventionsstrategien zu entwickeln, um beiden Formen vorzubeugen.
Gewaltindikatoren
behutsam überprüfen
Ähnlich erschreckende
Zahlen ermittelte unlängst auch eine irische Studie (Cooney u.
Wirgley 1996), die vergleichbare Schlußfolgerungen zog. An ihr
beteiligten sich 26 Betreuer von Demenz-Kranken, die Angebote einer
gerontopsychiatrischen Tagesklinik wahrnahmen. Von ihnen räumte fast
ein Viertel körperliche Übergriffe ein, denen fast durchweg (rund 85
Prozent) störendes Verhalten des Kranken vorhergegangen war. Wie
schon ihre niederländischen Kollegen vermuten auch die Autoren dieser
Studie, daß ein „Burn-out“-Syndrom die Grenzüberschreitungen gefördert
haben könnte. Sie empfehlen, immer dann nach möglichen Übergriffen
zu fragen, wenn die Betreuung schon lange andauert, die Betreuer
Alkoholprobleme bzw. andere seelische Erkrankungen haben oder hatten
oder sie sich abfällig über den Patienten äußern. Sie warnen
davor, mit der Tür ins Haus zu fallen. Besser sei es, sich erst
vorsichtig nach negativen Gefühlen des Betreuers zu erkundigen, um
dann allmählich zur Sache zu kommen. Es sei erstaunlich, wie
bereitwillig Betreuer offen über eigenes problematisches Verhalten
sprechen.
Anlaufstellen
einrichten
Alle angesprochenen
Untersuchungen verdeutlichen die Notwendigkeit, Methoden und Angebote
zu entwickeln, die es Betreuern erleichtern, möglichst gewaltfrei mit
Demenz-Kranken umzugehen. Als Beispiel für einen denkbaren Ansatz sei
die Bonner Initiative gegen Gewalt im Alter („Handeln statt Mißhandeln“)
angeführt. Diese bietet nicht nur ein Nottelefon sowie
Krisenintervention und -beratung an. Darüber hinaus will sie auch
Selbsthilfegruppen für Professionelle und Betroffene einrichten.
A.
M. Pot et al.: Verbal and physical aggression against demented elderly
by informal caregivers in the Netherlands. Soc. Psychiatry Psychiatr.
Epidemiol. 1996 (31) 156-162; C. Cooney/M. Wrigley: Abuse of the
elderly with dementia. Irish J. Psychol. Med. 1996 (13/3) 94-96; R. D.
Hirsch et al.: Fixierungen: „Zu viel, zu häufig und im Grunde
vermeidbar“. Zeitschrift für Gerontopsychologie und -psychiatrie
1992 (5) 127-135