Deutschland. Viele ältere Menschen
leiden unter einer altersbedingten Sehminderung. Letztere beeinträchtigt
nicht nur die Lebensqualität, sie kann auch die Intelligenz verringern. Je
nach Ausmaß der intellektuellen und sonstigen Einbußen (z. B. bei den
Sozialkontakten) werden mitunter sogar die Kriterien einer Demenz erfüllt.
Wie Untersuchungen von S. Lehrl und K. Gerstmeyer zeigen, verbessern sich
nach einer Kataraktoperation die Intelligenzleistungen älterer Personen
deutlich. Vor diesem Hintergrund ist es für die Autoren ein Gebot humaner
Verantwortung, zumindest solchen Patienten das Stigma „Demenz“ zu
ersparen, bei denen eine Sehminderung die Diagnose begünstigt. Hierfür
kommen zwei Strategien in Betracht: 1. der Verzicht auf Demenztests, deren
Ergebnisse von der visuellen Wahrnehmung abhängen, 2. Angebot und
Durchführung von Kataraktoperationen, wo dies sinnvoll und möglich ist.
Lehrl und Gerstmeyer stützen ihr
Plädoyer auf eigene Erfahrungen an 40 über 73-jährigen, die sich einer
Kataraktoperation unterzogen hatten. Vor dem Eingriff und einige Wochen
danach wurde der „Kurztest für allgemeine Basisgrößen der
Informationsverarbeitung“ (KAI) durchgeführt. Dieser misst zwei
Basisgrößen der „fluiden Intelligenz“: die
Informationsverarbeitungsgeschwindigkeit und die Kurzzeitspeicherkapazität
(„Grenze der Gegenwartsdauer“). Nimmt man die Kurzzeitspeicherkapazität
als Beurteilungskriterium, so wäre bei 25 der insgesamt 40 Teilnehmer ein
Demenz-Verdacht berechtigt gewesen. Durch das Einsetzen von
Intraokularlinsen verbesserte sich bei den Patienten die Speicherkapazität
je nach Teilstudie im Mittel um 26,5 bis 71,1 Prozent. Dagegen blieb sie
in einer unbehandelten Kontrollgruppe so gut wie unverändert (+1,8
Prozent).
Die Autoren betonen, dass
zahlreiche Untersuchungsteilnehmer langfristige geistige Leistungseinbußen
aufwiesen, die sich auf das Alltagsleben auswirkten. Diese Personen
wirkten daher nicht nur „wie dement“, sie waren es auch. Die Situation
veränderte sich bei vielen durch den operativen Eingriff, weil
anschließend entweder die Diagnosekriterien nicht mehr erfüllt waren oder
der Schweregrad der Demenz abgenommen hatte. Die Autoren erwähnen, dass
andere Studien ebenfalls Zusammenhänge zwischen Sehkraft und Demenz
angedeutet haben. So schnitten in einer Untersuchung Demenz-Patienten mit
erheblichen Seheinbußen im Mini Mental State Test wesentlich schlechter ab
als Demenz-Kranke ohne vergleiche Sinnesbeeinträchtigung.
So erfreulich die Perspektive auch
sein mag, Demenzen mit Hilfe von Kataraktoperationen zu lindern, so
unsicher ist doch deren Realisierbarkeit. Laut einer von den Autoren
zitierten Studie sollen sich nämlich kognitiv stärker beeinträchtigte
Personen vehementer gegen Kataraktoperationen wehren als kognitiv
leistungsfähigere. Mit anderen Worten: Eine Demenz kann ihrer Heilung
entgegenstehen.
S. Lehrl et al.: Systematische
Fehleinschätzung von Altersdemenz durch kataraktbedingte Minderung der
Informationsverarbeitung. Ophthalmologe 2004 (101) 164-169 |