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Familien Demenz-Kranker gesund erhalten

Leipzig/Erlangen-Nürnberg. Nützliche Hinweise zur Unterstützung familiärer Betreuer von Demenz-Patienten geben T. Gunzelmann und Mitarbeiter. Das Psychologen-Team rät den Betreuern, alte, mittlerweile unangemessene Beziehungsstrukturen und Interaktionsweisen im Verhältnis zum Kranken zu erkennen und konstruktiv zu verändern. Betreuer bleiben gesünder, wenn sie emotional unabhängiger vom Kranken werden.

   Nach Ansicht der deutschen Wissenschaftler tragen auch die Betreuer zur Verhaltensvariabilität Demenz-Kranker bei. Immer wieder sei folgendes zu beobachten: Schwer demente Menschen, die im familiären Umfeld erheblich verhaltensgestört wirken, erscheinen in anderen sozialen Situationen (etwa öffentlichen Räumen) oder in Beziehung zu Nicht-Familienmitgliedern plötzlich unauffällig. Ja, manchmal kommt es sogar zu Leistungen, die in der Familie längst nicht mehr auftreten (etwa spontane Sprache, selbständiges Essen). Solche Phänomene beobachteten Gunzelmann und Mitarbeiter beispielsweise in Betreuungsgruppen für Demenz-Kranke, die parallel zu Angehörigengesprächsgruppen stattfanden.

   Die Autoren erklären die beschriebene Diskrepanz damit, daß eine Demenz immer auch das "Pflegesystem Familie" in eine Krise stürzt. Dabei kommt es in der Paarbeziehung nicht selten zu folgenden Entwicklungen und Problemen:

1. In seinem Äußeren bleibt der Partner zwar weiterhin vertraut, verhaltensmäßig wird er jedoch zu einem Fremden. So entstehen Spannungen, die die eheliche Beziehung verändern und belasten ("Man ist verheiratet und ist es doch nicht mehr"). Manche Ehepartner verleugnen dann die Symptome des Kranken, um das vertraute Bild zu erhalten.

2. Andere verspüren den heimlichen Wunsch, der Partner möge bald sterben, um den psychologisch längst erlebten Verlust nun endlich auch real betrauern zu können. Dieses Bedürfnis erzeugt dann seinerseits Schuldgefühle.

3. Aufgrund der Vereinsamung im Alter machen Partner ihr Selbsterleben und ihre Identität oft von der Existenz des anderen abhängig ("Meine Frau ist doch das einzige, was ich noch habe"). Ein Funktionsverlust beim Kranken wird dann auch vom Gesunden rasch als Verlust eines Teils der eigenen Persönlichkeit erlebt.

4. Der gesunde Partner muß akzeptieren, daß ihm die Beziehung zum anderen künftig keine Sicherheit mehr geben kann und daß er selbst neue Lebensperspektiven entwickeln muß.

   Auch im Verhältnis zwischen gesunden pflegenden Kindern und einem Demenz-kranken Elternteil sind psychologisch bedenkliche Prozesse möglich:

1. Manche Betreuer hoffen, die als Kind vermißte Zuneigung durch aufopfernde Pflege erhalten zu können. Da es mit zunehmendem Schweregrad der Demenz immer schwerer wird, dieses Ziel zu erreichen, werden sie zwangsläufig enttäuscht und verletzt.

2. Viele Kinder entdecken verstärkt Eigenschaften der Eltern an sich, je älter sie selbst werden. Sie verinnerlichen gleichsam deren Persönlichkeit. Verändert sich nun die reale Persönlichkeit der Eltern, so kann das dazu führen, daß auch das Selbstbild des Kindes instabil wird ("Etwas stirbt in mir").

3. Durch die Demonstration von Hilflosigkeit  gelingt es einigen Demenz-Kranken, die sie pflegenden "Kinder" erneut in eine "Abhängigkeit" zu bringen. Infolge des Autonomieverlustes fühlen sich die Kinder wieder in die Kindheit zurückversetzt.

4. Da die Machtausübung gegenüber Eltern tabuisiert ist, stürzt das Kind durch die Umkehrung des früheren Machtverhältnisses zwischen ihm und dem Elternteil in einen Konkflikt. Sind Eltern-Kind-Beziehungen ohnehin durch eine konfliktreiche Vergangenheit belastet, besteht die Gefahr, daß das pflegende Kind nun alte aggressive Phantasien und Tendenzen unter dem Mantel einer "fürsorglichen Autorität" auslebt.

Emotionale Unabhängigkeit hält Betreuer gesund

   Krankheitsbedroht sind vor allem "emotional abhängige" pflegende Angehörige. Sie zeichnen sich in der Beziehung zum Kranken dadurch aus, daß sie Freiräume für sich nicht ohne Schuldgefühle gegenüber dem Kranken nutzen können, eigene Bedürfnisse zugunsten des Kranken regelmäßig verleugnen oder zurückstellen, äußere Hilfe nicht annehmen können, sich in der Pflege als unentbehrlich einschätzen, ihr eigenes Wohlbefinden eng an das des Kranken binden, objektiv vorhandene Krankheitssymptome verleugnen oder unrealistisch interpretieren und außerhalb der Pflegesituation für sich keine Perspektiven formulieren können.

   Sowohl Partner wie auch Kinder von Demenz-Kranken laufen leicht Gefahr, in der Interaktion mit dem Kranken dysfunktionale Konfliktlösungsmuster zu wiederholen, die schon vor Einsetzen der Demenz-Symptome bestanden und Probleme bereitet hatten. Verhaltensstörungen des Patienten rufen nämlich nicht nur Erinnerungen an frühere Konflikte wach, sondern verleiten auch dazu, auf alte Auseinandersetzungsstrategien zurückzugreifen. Nur wirken selbst ursprünglich erfolgreiche Konfliktlösestrategien jetzt nicht mehr, weil sich einer der Mitspieler nicht mehr in der gewohnten Weise beteiligen kann.

T. Gunzelmann, E. Gräßel, C. Adler, G. Wilz: Demenz im "System Familie". System Familie 9 (1996), 22-25