von
Dr. Erich Brunn, Pharmacia Upjohn Inc., Erlangen
Einem Philosophen wird der Satz zugeschrieben: "Es sind nicht
die Dinge selbst, die uns beunruhigen, sondern es ist unsere Sicht der
Dinge, die uns Probleme bereitet." Dies läßt sich am Beispiel des
Umgangs mit sog. psychisch Kranken verdeutlichen. So gibt es Kulturen, die
"Verrückte" aus Angst oder Überforderung einsperren, während
andere in der Verrücktheit etwas Göttliches sehen und den Betroffenen
mit Respekt und Ehrfurcht begegnen. Vor diesem Hintergrund liegt es nahe,
auch unsere "klassischen" Sichtweisen der Demenz zu überprüfen.
Ist es wirklich so, daß umherirrende Demenz-Kranke
"unruhig" sind oder stört ein solches Verhalten nicht eher die
"Ruhe" des Betreuers? Könnte es nicht sogar sein, daß die
Patienten aus "Bewegungslust" handeln und ihr Umherwandern ein
Ausdruck gesteigerter Lebendigkeit ist? Vielleicht werden einige Leser an
dieser Stelle verständnislos mit dem Kopf schütteln und die
dargestellten Überlegungen als "konstruiert" abtun. Damit haben
sie durchaus recht; nur sollten sie sich bewußt werden, daß die gängigen
Ansichten nicht weniger "konstruiert" sind. Beschreibungen, nach
denen der Demenz-Kranke "umherirrt", "vor sich
hinstarrt", "Unverständliches brabbelt", sagen weitaus
mehr über den Beobachter aus als über das Erleben des Kranken.
Vielleicht "sucht" der Patient ja etwas, "träumt" er
gerade oder erfreut er sich an den selbst produzierten Tönen.
Worin liegt nun der Nutzen solcher Überlegungen? Wer sich bewußt
macht, daß viele Probleme im Umgang mit Demenz-Kranken mehr mit dem
Erleben des Betreuers zu tun haben als mit der Person des Patienten, kann
differenzierter und letztlich freier mit der Situation umgehen. Er oder
sie wird dann vielleicht weniger nach Mitteln und Maßnahmen suchen, die
einen "unruhigen" Kranken endlich "ruhigstellen". Möglicherweise
fragt sich ein solcher Betreuer statt dessen, was er für sich selbst tun
kann, um im Zusammenleben mit dem Demenz-Kranken künftig mehr die Ruhe zu
bewahren. Und ein solches Vorgehen verspricht den schnellsten Erfolg.
Wie leidfördernd einseitige Sichtweisen sein können, zeigt auch
die folgende Überlegung: Leider neigen noch immer viele Betreuer dazu,
vor allem die Defizite des Kranken wahrzunehmen. Eine solche Haltung verführt
zum ständigen Beklagen und Betrauern von Verlusten, was sowohl beim
Kranken als auch beim Betreuer fast unweigerlich Gefühle von Angst,
Verzweiflung, Wut und Resignation hervorruft. Damit läßt es sich weniger
gut leben. Was spricht dagegen, statt dessen konsequent immer wieder
danach zu suchen, "was noch alles funktioniert"? Eine solche
Haltung erhöht die Wahrscheinlichkeit, daß sich auch Gefühle von
Freude, Zufriedenheit und Optimismus einstellen. Damit macht man sich
nichts vor, man verlagert lediglich den Schwerpunkt der Wahrnehmung (ähnlich
dem 50prozentig gefüllten Glas, das man bedauernd als "schon halb
leer" oder freudig als "noch halb voll" wahrnehmen und
erleben kann).
Schließlich sei noch ein Gedanke gewagt, der in einem der
nachstehenden Beiträge dieses Heftes wiederholt anklingt ("Überleben
im Meer der Verwirrtheit"): Warum sollte man sich nicht durch bizarr
wirkende Verhaltensweisen eines Demenz-Kranken dazu anregen lassen, das
eigene Verhalten zu überdenken? Könnte es nicht sein, daß uns
Demenz-Kranke Möglichkeiten vorleben, die uns verloren gegangen sind oder
die wir uns nicht mehr zugestehen (wie Langsamkeit, Unberechenbarkeit,
Lust, Triebhaftigkeit, Nutzlosigkeit)?
Neben der Flexibilität im Wahrnehmen gibt es natürlich auch
andere kognitive Bereiche, wo man sich durch mehr Beweglichkeit den Umgang
mit der Demenz erleichtern kann. Zu ihnen gehören einengende Denkmuster
(etwa polarisierende Fragen wie "Behandlung: ja oder nein?"),
hinderliche Grundüberzeugungen ("Die Demenz ist nicht
behandelbar") und Abwertungen (Demenz als "Persönlichkeitsverfall",
"sinnloses Geschwätz Dementer").
Für Pharmacia Upjohn Inc. ist die Fähigkeit, flexibel
unterschiedliche Perspektiven einnehmen zu können, selbstverständlich.
So achten wissenschaftliche Studien zu SermionR
30 längst nicht mehr nur auf den Patienten, sie beziehen auch Wahrnehmung
und Erleben der Betreuer und Behandler in die Wirksamkeitsbeurteilung ein.
Flexibilität im Wahrnehmen klingt nicht zuletzt im Namen unserer
Firmenzeitschrift an. Abgeleitet vom lateinischen Wort "spectare"
(= schauen, betrachten) will unser Medium das "Spektrum möglicher
Sichtweisen zur Demenz" erweitern. Damit lädt es auch Sie ein, mit
einer der großen medizinischen und sozialen Herausforderungen unserer
Zeit kreativ umzugehen.
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