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„So blöd bin ich noch lange nicht!“ Was in geistig verwirrten älteren Menschen vorgeht. Information und Hilfe für Angehörige, Freunde und Pflegende

In einfühlsamer Weise und mit Hilfe bildhafter Vergleiche entwickelt B. Miesen neue Sichtweisen für den Umgang mit Demenz-Kranken. Im Vordergrund steht eine Theorie des Gedächtnisses mit folgenden Annahmen:

1.    Alle Faktoren, die bei Gesunden das Wahrnehmen, Speichern und Wiedergeben von Informationen beeinträchtigen können, kommen beim (gestörten) Gedächtnis dementer Menschen zum Tragen.

2.    Das menschliche Gedächtnis speichert im Lauf der Jahre immer weniger neue Wahrnehmungen.

3.    Mit höherem Alter nimmt die Zahl der bereits gespeicherten Wahrnehmungen wieder ab.

4.    Je älter jemand ist, desto weniger Informationen nimmt er gleichzeitig wahr und speichert er.

5.    Der Prozeß der Wahrnehmung („Eindruck“), Speicherung („Abdruck“) und Wiedergabe („Ausdruck“) läßt sich günstig beeinflussen, wenn verschiedene Sinnesorgane gleichzeitig angesprochen werden.

6.    Die Wiedererkennung gespeicherter Wahrnehmungen ist leichter als ihre Wiedergabe.

7.    Die beschriebenen Vorgänge verlaufen bei jedem Sinnesorgan anders.

Mit allen Sinnen arbeiten

Vor dem Hintergrund dieser Annahmen lassen sich nützliche Schlußfolgerungen ableiten. Beispiele:

*     Junge Menschen entschuldigen ihre Vergeßlichkeit auf unterschiedliche Weise. Vermutlich gelten die gleichen Erklärungen auch für Demenz-Kranke (etwa: Ich hatte zuviel zu tun. Ich bekam zu wenige Informationen oder zu viele Informationen gleichzeitig. Ich war mit den Gedanken bei etwas anderem. Ich wurde abgelenkt. Es ist zu lange her. Es interessierte mich nicht. Es kam etwas Unvorhergesehenes dazwischen. Es machte mir keinen Spaß. Es interessierte mich nicht. Ich war zu aufgeregt. Ich war in Eile. Ich war unkonzentriert. Ich war furchtbar müde. Ich konnte mir keinen Reim daraus machen.)

*     Die Schwierigkeit, neue Informationen zu speichern, beinhaltet auch Vorteile: So vergessen Demenz-Kranke vermutlich unangenehme Reize, sobald diese aus dem Wahrnehmungsbereich verschwinden.

*     Dasjenige, worüber man mit dem Demenz-Kranken spricht, sollte während der ganzen Unterhaltung immer sinnlich wahrnehmbar bleiben („Siehst Du die weiße Wolke da oben?“ und nicht: „Hast Du vorhin die Wolke gesehen?“). Auch der Betreuer sollte möglichst immer im Wahrnehmungsfeld bleiben und beispielsweise dem von hinten geschobenen Rollstuhlfahrer eine Hand auf die Schulter legen und ihn wiederholt darauf hinweisen, daß man hinter ihm hergeht.

 

*     Die folgende Abbildung zeigt ein Modell des Vergessens. Sie veranschaulicht, wieso sich Demenz-Kranke irgendwann an die letzten Jahre ihres Lebens nicht mehr erinnern können. Gleichzeitig verdeutlicht sie, warum es sinnvoll ist, sich mit Demenz-Patienten vor allem über frühere Zeiten zu unterhalten, und warum die Kenntnis ihres Lebenslaufes so wichtig ist.

 

 

*     Die eingeschränkte Informationskapazität macht es notwendig, „möglichst viel mit möglichst wenig Worten zu sagen“. Meist behält der Demenz-Kranke nur die letzten Worte.

*     Es ist hilfreich, eine Information über möglichst viele Sinnesorgane gleichzeitig zu transportieren. Statt nur an den Toilettengang zu erinnern, kann man dem Patienten zusätzlich die WC-Tür öffnen, so daß er die Toilette sieht und riecht, und ihm beim Öffnen der Kleidung unterstützen. Vermutlich versteht der Betreffende dann eher, was man von ihm erwartet. Aus diesem Grund fördern Gebärden das Verständnis des Gesprochenen.

*     Der Unterschied zwischen aktivem und passivem Wissen ist jedem vertraut: Man benutzt beim Sprechen weitaus weniger Worte als man versteht (und beispielsweise beim Lesen „wiedererkennt“).Deshalb ist es mitunter ergiebiger, wenn der Demenz-Kranke etwas wiedererkennen kann und er nicht etwas wissen, also aktiv reproduzieren, muß. Die Frage „Was hast Du gegessen?“ führt möglicherweise weniger rasch zum Ziel als die Frage „Hast Du gestern Suppe oder Brei gegessen?“.

*     Das Erinnerungsvermögen an frühere Informationen hängt davon ab, mit welchem Sinnesorgan sie aufgenommen wurden. So können demente Personen im allgemeinen besser ausdrücken oder wiedergeben, was sie betastet und gerochen haben, als was sie gesehen und gehört haben. Es ist deshalb manchmal erfolgreicher zu fragen, was der Patient gegessen hat, und nicht, wer mit ihm während der Mahlzeit am Tisch gesessen hat. Ein dementer Patient wird möglicherweise am Mittagstisch bereitwilliger Platz nehmen, wenn dieser schon sichtbar gedeckt ist, erstes Besteckklappern zu hören ist und der Essensduft bereits den Raum erfüllt.

*     Frühere Wahrnehmungen werden in einer Situation umso eher wiedergegeben, je mehr sie derjenigen Situation ähnelt, in der die Wahrnehmung erstmalig stattfand. Dies mag erklären, warum sich Gedächtnisleistungen nach einem Umzug verschlechtern und warum die Gestaltung eines Heimplatzes mit eigenen Möbeln auch für die Erinnerungsfähigkeit (nicht nur das Wohlbefinden) nützlich ist.

Verwirrtheit als „Suche nach Halt“

Neben seiner Gedächtnistheorie und den daraus abzuleitenden Schlußfolgerungen entwickelt Miesen einen weiteren nützlichen Denksatz. Es handelt sich um die Vorstellung, daß sich viele Verhaltensweisen dementer Menschen als Folgen ihrer „Suche nach Halt“ bzw. ihres gesteigerten Bedürfnisses nach Sicherheit und Geborgenheit verstehen lassen. Aus dieser Perspektive kann es zum Beispiel sinnvoll erscheinen, auf räumliche Nähe und Körperkontakt zum Patienten zu achten. Wachsende Unruhe des Kranken läßt sich als Ausdruck ihrer Einsamkeitsgefühle und als Kontaktwunsch interpretieren. Auch der Ruf der alten Menschen nach ihren Eltern wird verständlich, weil zu diesen Personen meist eine besonders enge Halt und Sicherheit gebende Bindung bestand. Umgekehrt überrascht es nicht, daß sich manche Demenz.-Kranke wieder an den Tod der eigenen Eltern erinnern und die Suche nach ihnen einstellen, sobald sie die Nähe zu einem Betreuer spüren (sich „versorgt“, „beruhigt“, „getröstet“, „gewärmt“ fühlen). Selbst das stundenlange Festhalten und Rumschleppen von Handtaschen, zerknüllten Taschentüchern und anderen Gegenständen macht als Form der „Haltsuche“ plötzlich Sinn. Wer im Weglaufen („Ich will nach Hause“) die Botschaft „Ich fühle mich hier nicht zu Hause“ entschlüsselt, kann neue Wege entwickeln, ein solches Verhalten möglicherweise verzichtbar zu machen.

Warum Demenz-Kranke sich „normal“ verhalten

Nicht zuletzt ermuntert Miesen noch zu einem entlastenden Perspektivwechsel: Was spricht dafür, das Verhalten Demenz-Kranker als anormal in einer normalen Situation zu beschreiben? Angesichts der Schwierigkeiten, denen diese Personen aufgrund ihrer Gedächtnisschwierigkeiten und der oft dramatisch veränderten Lebensbedingungen ausgesetzt sind, kann man mit gleichem Recht sagen, daß sie sich in einer äußerst „unnormalen“ Situation ziemlich normal verhalten. Letztlich verhalten sich demente Menschen nämlich nicht wesentlich anders, als „gesunde“ Menschen dies in merkwürdigen, fremden und bedrohlichen Situationen und in Augenblicken der Unsicherheit ebenfalls tun: Vor allem suchen sie die Nähe eines anderen.

B. Miesen: „So blöd bin ich noch lange nicht!“ Was in geistig verwirrten älteren Menschen vorgeht. Information und Hilfe für Angehörige, Freunde und Pflegende. TRIAS Thieme-Hippokrates-Enke. Stuttgart 1996. 144 Seiten. DM 29,80