Von
Kirsten Margraf, Pädagogin u. Lehrbeauftragte im Fachbereich Pflege und
Gesundheit der Fachholschule Frankfurt
Wertvolle Denkanstöße zur
Betreuung dementer Menschen liefert die Kunst. Ihr ist der gleichzeitige
Umgang mit „Verrücktheit“ und verschiedenen Wirklichkeiten
vertraut, ja selbstverständlich. Wer die vielen Portraits der gleichen
Person durch Picasso kennt, fragt nicht, welche Ansicht denn
„richtig“ sei. Denn Künstlern billigt man wohlwollend zu, ihre höchst
persönlichen und oft „verrückten“ Sichtwinkel auszuleben und uns
so die vielfältigen Dimensionen von Wirklichkeit zu veranschaulichen.
Dagegen fällt es weitaus schwerer zu akzeptieren, daß auch
Demenz-Betroffene - allerdings ohne künstlerische Intention - in ähnlich
„verrückten“ Welten leben.
Einen hilfreichen und noch zu
selten genutzten Zugang zu diesen Welten eröffnet die körperliche
Interaktion. Sie kommt ohne sprachliche Symbole aus, indem sie Begriffe
wörtlich nimmt und die mit ihnen beschriebenen Handlungen konkret ausführt.
So kann man dementen Menschen etwas „begreiflich machen“, indem man
sie die Dinge tatsächlich begreifen (also anfassen) läßt bzw. indem
man sie berührt. Unsere Sprache benutzt zahlreiche Körper- und
Bewegungsmetaphern (z.B. „sich an den Kopf fassen“, „die Haare
raufen“, „auf der Stelle treten“, „sich verrennen“). Diese
sprechen für sich selbst und erleichtern es uns, das Verhalten
sprachloser Menschen zu interpretieren.
Vieles spricht dafür,
daß der kinästhetische bzw. der Tastsinn (das Spüren) zu Beginn
unseres Lebens eine Leitfunktion hat. Da die Demenz zuerst „jüngere“
Fähigkeiten und erst später die älteren beeinträchtigt, bleiben Fühlen
und Bewegen lange Zeit erhalten. Für den dementen Patienten werden sie
zum einzig „Wirklichen“, auf das er sich noch verlassen kann. So
haut der Kranke auf die Armlehnen des Rollstuhls, weil dieser über die
abgebremste Bewegung fühl- und damit erlebbar wird. Irgendwann ersetzt
die Bewegungswahrnehmung die Fähigkeit, Dinge zu erfühlen: So erklärt
sich, warum von einer Demenz Betroffene Äpfel solange schälen, bis sie
nicht mehr vorhanden sind. Die beim Ein- und Ausatmen entstehenden
Vibrationen ermöglichen es dementen Menschen, sich selbst zu spüren.
Körperarbeit ist im wahrsten
Sinne des Wortes „distanzlos“, deshalb höchst intim und ohne
Vertrauen undenkbar. Auf Berührungen und Begreifen reagieren demente
Personen ähnlich sensibel wie blinde Menschen. Wie Sicherheit
vermittelnd Körpererfahrung über einen Berührungskontakt sein kann,
weiß jeder, der sich im Dunkeln setzen will und vorher mit der Hand die
Sitzfläche ertastet hat. Offenbar gibt es so etwas wie „direkte Körperverständigung“,
bei der Gesunde zum „Körpergedächtnis“ des Kranken Kontakt
aufnehmen und am eigenen Körper spüren können, was ihrem kranken
„Gesprächspartner“ fehlt. In der körperlichen Interaktion erlebt
der Kranke, daß nicht nur in ihm Reaktionen entstehen, sondern daß er
auch selbst bei anderen Reaktionen auslösen kann. Diese „Wirkungen“
vermitteln ihm ein Gefühl von „Wirklichkeit“, lassen ihn sich als
kohärent mit der Welt erleben und beruhigen ihn.
Wer mit dementen Menschen körperlich
interagiert, sollte einige Regeln beachten: Nicht jeder will immer und
überall angefaßt werden. Es gibt individuell sich unterscheidende
offizielle und inoffizielle Körperzonen. Anfang und Ende von Berührungen
sollten klar und deutlich sein. Taktile Endloskreise sind uneindeutig
und machen nervös. Berührungen mit der Handfläche signalisieren
„Ich will was von Dir“, Berührungen mit der Handrückseite „Ich
bin hier. Wo bist Du? Ich möchte Kontakt.“ Gesten nutzen die
Erfahrungen, die viele demente Menschen in ihrer Kindheit mit
Stummfilmen gemacht haben. Außerdem laden sie zur Imitation ein bzw. fördern
den Wunsch mitzumachen.
Nach
dem Vortrag „Körperbezogene Therapieansätze“ am 18.10.1998 auf dem
10. Internationalen Symposium der Deutschen Gesellschaft für Geriatrie